Ganzheitlichkeit und Entwicklung - Interviewreihe mit Friedrich Glasl Teil 1: Entwicklung als Lebensmotto
/Am 21. Mai 2021 ist Prof. Dr. Dr. h.c. Friedrich Glasl 80 Jahre alt geworden. Fritz, wie seine Freundinnen und Kollegen ihn nennen, arbeitet seit 1967 als Organisationsentwicklungsberater, Mediator und als Leiter zahlloser Lehrgänge und Seminare und hat seither grundlegende Konzepte in Organisationsentwicklung und Konfliktmanagement entwickelt. Im März 2021 hatte ich die Gelegenheit, ein längeres Gespräch mit Friedrich Glasl zu führen, in dem ich anlässlich seines 80. Geburtstags mit ihm auf sein Wirken, seine Motive und Erkenntnisse blicke, die er in über 50 Jahren als OE-Berater und Mediator gesammelt hat. Dieses Interview veröffentlichen wir in 4 Teilen. Im ersten Teil «Entwicklung als Lebensmotto» erzählt Fritz vom roten Faden, der sich durch sein Leben und Werk zieht.
Friedrich Glasl ist nicht nur ein Pionier der OE in Europa, vielmehr gilt er als einer der weltweit einflussreichsten Konfliktforscher und hat als Mediator nicht nur in und zwischen Organisation friedensstiftend gewirkt, sondern darüber hinaus in vielen Konflikt- und Krisengebieten der Welt vermittelnd und in der Versöhnungsarbeit gewirkt. Darüber hinaus hat er zusammen mit Kollegen 1985 Trigon Entwicklungsberatung gegründet und als Lehrer, Mentor und freundschaftlicher Kollege dafür gesorgt, dass viele jüngere Kolleginnen und Kollegen nicht einfach seinem Weg folgen, sondern vielmehr von ihm begleitet und unterstützt ihren eigenen Weg in der Beratung und Mediation finden.
Entwicklung als co-kreativer Lernprozess
Ich erlaube mir, begleitend zu den Videos in meinen jeweiligen Blogs persönliche Gedanken und Erlebnisse zu beschreiben, die das im Interview Thematisierte illustrieren.
Ich verdanke Fritz unendlich viel. Ich bin ihm 1999 als damals knapp 29jähriger junger Mann erstmals begegnet, als ich bei ihm meine Ausbildung in Organisationsentwicklung begonnen hatte. Dabei ist mir von Beginn an eindrücklich gewesen, wie der schon damals weitherum bekannte und anerkannte Fritz mich und jeden anderen Menschen mit Neugier, Interesse und unkomplizierter Nahbarkeit begegnete. Fritz ist immer ein bescheidener Mensch geblieben, der nicht viel Aufhebens um seine Person macht, wenngleich er sehr klare Werte hat und deutliche Standpunkte vertritt. Gerade diese Verbindung von seinem offenen und zurückhaltenden Wesen mit einer spürbaren Haltung und pointierten Äusserungen haben mir damals Orientierung für meine eigene Entwicklung gegeben und mich nachhaltig geprägt.
Schon in der OE-Werkstatt, der Ausbildung, die ich damals bei ihm machte, konnte ich hautnah erfahren, mit welcher Wahrhaftigkeit Fritz seine Arbeit verfolgte. Er betrachtete die Ausbildung stets als co-kreativen Entwicklungsprozess, in dem alle 20 Teilnehmenden als Individuen ernst genommen und gefördert werden sollten. So hat er nie einfach ein bewährtes Programm abgespult – ganz im Gegenteil. Jede Lehrgangswoche waren jeweils 2-3 Teilnehmende als Mitglieder der so genannten Lenkungsgruppe zusammen mit ihm und der Co-Leiterin der Ausbildung (damals Katharina Liebenberger) jeden Abend bis nach Mitternacht am Reflektieren des vergangenen Tages und Planen des nächsten. Fritz achtete präzise darauf, dass die Bedürfnisse der einzelnen Teilnehmenden und die Bedarfe der Lehrgangsgruppe berücksichtigt und mit den Lernzielen so verbunden wurden, dass eine runde Prozessgestalt entstehen konnte. Wir konnten unsere eigenen Ideen und Inhalte immer einbringen, lernten jedoch auch, wie relevant es ist, dabei Ziel-Weg-stimmig für die Lernziele vorzugehen und kreativ auf Unvorhergesehenes im Prozess zu reagieren.
Gelebte Entwicklungsbegleitung
Diese Qualität – das sorgfältige Achten auf Entwicklungsdynamiken – habe ich auch nach meiner Ausbildung in der Zusammenarbeit mit Fritz immer wieder erlebt, sei es bei Prozessen innerhalb von Trigon (wo ich seit 2004 mit dabei bin), oder in gemeinsamen Seminaren und Beratungsprozessen.
Ich erinnere mich, wie ich ca. 2005 erstmals gemeinsam mit Fritz ein fünftägiges Seminar zum Thema Konfliktmanagement in Organisationen halten durfte. Ich ging davon aus, dass ich ihm da einfach assistieren würde – schliesslich hielt er dieses Seminar schon seit vielen Jahren gemeinsam mit unterschiedlichen Kolleginnen und Kollegen. Aber weit gefehlt: Als wir uns am Sonntag zur Vorbereitung trafen, stellte er das ganze Seminardesign für über 20 Personen zur Diskussion, wollte von mir wissen, wie ich meine Inhalte und Spezialitäten reinbringen will und bat mich, ganze Input-Einheiten selbst zu übernehmen und Vorschläge für Übungen zu machen. Auch haben wir wiederum jeden Abend gemeinsam reflektiert, was die Gruppe braucht, wie die Fallanliegen einzelner Teilnehmender methodisch vielfältig bearbeitet werden könnten und wie wir mit unserer Zusammenarbeit zufrieden waren.
Ich glaube, ich habe nie präzisere Feedbacks bekommen als von ihm in diesen gemeinsamen Prozessen. Dabei hatte ich immer den Eindruck, dass es um die Sache, um die Lern- oder Beratungsziele ging. Nie fühlte ich mich bevormundet (was bei mir schon einiges heisst ....) oder als Lehrling behandelt. Im Gegenteil: Ich sollte genauso Rückmeldungen an Fritz geben, Ideen einbringen, was er verbessern, wie er stärker auf die Teilnehmenden und ihre Anliegen eingehen könne, was mich zu Beginn einigermassen herausgefordert hatte, mir gleichzeitig aber auch den Weg ebnete, mich selbst in meiner Art und Weise zu entwickeln.
Offenheit und Neugier
Dieses ehrliche Interesse an Entwicklung von Menschen und sozialen Systemen zieht sich bis heute durch in meinen Erfahrungen mit Fritz. Gerade in den letzten Jahren, in denen Fritz weniger häufig bei Trigon-Treffen dabei ist, durfte ich als mittlerweile selbst schon erfahrenerer Berater immer wieder erleben, wie sich Fritz für Weiterentwicklungen und Ergänzungen seiner Konzepte durch mich und andere interessiert und sich daran erfreut – nicht unkritisch oder oberflächlich, sondern wirklich die Essenz anderer Zugänge und Ansätze erfassen wollend. Dabei habe ich oft erfahren, wie er Anregungen und Inspirationen von Kolleginnen und Kollegen nicht nur zulässt, sondern selbst mit seinen Modellen verbindet und sie integriert, wo sie ihm stimmig erscheinen. Auch hier wieder zeigt sich diese Qualität, Entwicklung wirklich ermöglichen zu wollen, Bedingungen zu schaffen, in denen sich Menschen und Organisationen wesensgemäss entwickeln können.
Diese Gedanken sind mir gekommen, als ich nochmals den ersten Ausschnitt unseres Gesprächs vom letzten März angeschaut habe, in dem Fritz Entwicklung als sein Lebensmotto erläutert!