Wodurch kann heute Orientierung in Transformationsprozessen entstehen?

syntaktisch.png

Syntaktisches Arbeiten als Orientierungshilfe
Die Postmoderne hat uns gelehrt, dass es keine objektiven Wahrheiten gibt, dass alles kontextabhängig, vielperspektivisch und in systemischen Wechselwirkungen und zirkulären Prozessen relativistisch betrachtet werden sollte. Ebenso ist es state of the art, mit einem konstruktivistischen Bewusstsein auf Phänomene zu blicken. Dogmatische Denkmodelle und Glaubenssysteme wurden durch das 20. Jahrhundert einerseits moralisch diskreditiert, andererseits führen sie in der Regel nicht zu hilfreichen Erweiterungen des Möglichkeitsraumes, sondern zu festschreibenden Einengungen des Denkens, Fühlens und Handelns.
Gleichzeitig stehen wir als Individuen, in Organisationen und in gesellschaftlichen Zusammenhängen immer wieder vor der Frage, wie wir uns orientieren können in einem Ozean aus Komplexität und vielfältigen Spannungsfeldern. Wie setzen wir unter solchen Umständen den Kurs, wie navigieren wir? Gibt es so etwas wie universelle Prinzipien und Gesetzmässigkeiten nicht – woher kommen denn dann die Prämissen, auf denen individuelles und kollektives Handeln beruht? Einfach aus individuellen oder fraktionierten kollektiven Wertesystemen oder Bedürfnissen? 

Syntaktische und kurative Verwendung von Modellen als Ausweg aus dem postmodernen Dilemma
Aus unserer Sicht gibt es durchaus hilfreiche und sinnvolle Möglichkeiten, um die Erkenntnisse der Postmoderne mit Modellen und Orientierungssystemen stimmig zu verbinden. Viele kluge Köpfe haben sich in den vergangenen 20 Jahren mit dieser Frage befasst. So hat bspw. Ken Wilber mit seiner ganzheitlichen AQAL-Landkarte ein System geschaffen, das die alten Weisheitslehren mit der Moderne und Postmoderne zu versöhnen versucht.
Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer vom SySt®-Institut haben dazu ebenfalls einen enorm wertvollen Beitrag geleistet, den wir für unsere Beratungsarbeit als besonders hilfreich erachten. Dabei fokussiere ich hier auf die von ihnen geprägten Begriffe «syntaktisch» und «kurative Verwendung von Modellen und Formaten» im Kontext Beratung,Coaching und Therapie.

Syntaktisch: Ausgehend vom Satz Wittgensteins (Tractatus 2.033), dass die Form die Möglichkeit der Struktur ist, schlagen sie vor, Themen und Anliegen nicht vor allem auf inhaltlicher (= semantischer) Ebene – auf der Ebene der Form – anzugehen, sondern primär auf die Strukturen der Themen zu fokussieren, um ausgehend von diesen neue Formen zu ermöglichen. Dazu haben sie vielfältige syntaktische Formate entwickelt, die in der Lage sind, für spezifische Themen oder Anliegen ein Gefäss zu bieten, das einerseits beim Sortieren der Themen unterstützt und andererseits Orientierungshilfen für Lösungsschritte ermöglicht. Was Anforderungen an gute syntaktische Modelle sind, beschreibe ich im nächsten Abschnitt.

Kurativ: Wenn wir Modelle, Formate und Schemata nicht normativ (so muss es sein) oder deskriptiv (so ist es) verwenden, laufen wir nicht Gefahr, sie mit Wahrheiten zu verwechseln oder dogmatisch zu werden. Sie schlagen vor, Modelle kurativ zu verwenden: Betrachte eine Themen- oder Fragestellung unter dem Blickwinkel eines Modells und teste, ob es für Dich hilfreich, Orientierung bietend sein kann und Deinen Möglichkeitsraum erweitert. Diese kurative Verwendung von Modellen, ermöglicht ein kunstfertig-kreatives und schöpferisches Arbeiten an anspruchsvollen Situationen und lässt die Verantwortung für die Bedeutungsgebung dennoch bei den Menschen, die sich mit einer Frage auseinandersetzen.

Wenn ich also im Folgenden von syntaktischen Modellen spreche, schlage ich deren Anwendung also immer im Sinne des kurativen Verständnisses vor. 

Wie kann syntaktisches Arbeiten Orientierung anbieten?
Hilfreich und zielführend sind Schemata, Formate oder Modelle, die das Erfassen und Sortieren beliebiger Inhalte ermöglichen, um so einerseits eine Übersicht über den Dschungel der komplexen Inhalte zu vermitteln, und andererseits Orientierung für eine Entwicklungsrichtung bzw. für Lösungsschritte zu geben. Dafür besonders geeignet sind Modelle, die auf logischen Grundstrukturen oder auf Urbildern beruhen, weil sie etwas universell Menschliches repräsentieren und sich dadurch für Menschen in aller Regel intuitiv und unmittelbar erschliessen, während sie gleichzeitig fast beliebige Ebenen für ein immer noch tieferes Durchdringen ihrer Struktur und Zusammenhänge erlauben.
Logische Grundstrukturen sind deswegen besonders für die Bildung von syntaktischen Modellen geeignet, weil sie universell gültig sind und somit nicht kulturabhängig. Urbilder sind zwar nicht völlig kulturunabhängig, in aller Regel aber kulturübergreifend und berühren Menschen ebenfalls intuitiv und unmittelbar. Im Gegensatz dazu stehen rein kognitiv konstruierte Modelle, deren Anwendbarkeit häufig auf einen konkreten semantischen Anwendungsbereich beschränkt ist und spezielle Vorkenntnisse benötigen.
Wenn wir also mit Modellen arbeiten, die auf logischen Grundstrukturen oder Archetypen basieren, geben wir den Menschen einerseits die Möglichkeit, ihre Fragestellungen und Themen so zu sortieren, dass sich nur schon dadurch neue Blickwinkel ergeben. Andererseits beinhalten diese Modelle auch Hinweise für nächste gute Schritte und können so auf einer strukturellen Ebene Orientierung schaffen, ohne schon enge semantische Vorgaben zu machen. Das unterstützt jene, die eine Fragestellung einbringen, sich in Selbstverantwortung mit möglichen Antworten auseinanderzusetzen und Entscheidungen zu treffen, gibt ihnen aber dennoch Orientierung und Halt. Gleichzeitig ermöglicht ein syntaktisches Vorgehen z. B. Beraterinnen und Beratern, Angebote für Sortierung, Reframing und Orientierung machen zu können, ohne in die Inhaltsfalle zu tappen oder den ohnehin überfordernden Anspruch zu haben, inhaltlich alles verstehen zu müssen.

Die unter www.transformieren.art vorgestellten Beratungsprinzipien, Landkarten mit Modellen und Formaten und konkreten Instrumenten gehen von einem möglichst syntaktischen Arbeiten bei kurativer Anwendung der dafür genutzten Modelle aus. Dabei verwenden wir sowohl Formate, die auf logischen Grundstrukturen beruhen, wie z. B. das Glaubenspolaritäten-Schema oder das Tetralemma nach SySt®, als auch systemisch-evolutionäre Ganzheitsmodelle, die auf spirituellen Archetypen beruhen, wie z. B. das Systemkonzept der 7 Wesenselemente, die Entwicklungsphasen von Organisationen oder die 7 Basisprozesse der OE und viele weitere.

Der praktische Nutzen eines syntaktischen und kurativen Verständnisses in Beratung, Führung und letztlich auch Politik ist meiner Ansicht nach enorm.
Stellen Sie sich vor, es könnte gelingen, gerade auch in gesellschaftlich anspruchsvollen Prozessen und Spannungsfeldern,

  • weniger auf einzelne Bäume und mehr auf den Wald als Ganzes zu blicken

  • über syntaktische Modelle gemeinsam miteinander schwierige Themen zu sortieren und verschiedene Blickwinkel einzunehmen, ohne immer gleich in Bewertungen und Abwertungen gehen zu müssen,

  • und dann gemeinsam an Entwicklungsschritten zu arbeiten, für die es zumindest grobe Orientierungshilfen gäbe, um konkrete Ausgestaltungsformen zu erarbeiten – würde dies neue, zieldienlichere Formen der Auseinandersetzung ermöglichen?

Zumindest glaube ich, dass die Wahrscheinlichkeit dafür erhöht würde – dies zeigt mir die Erfahrung sowohl aus Projekten in Organisationen als auch in gesellschaftlichen Kontexten. Ich bin überzeugt davon, dass wir Orientierungshilfen brauchen und wir auch welche anbieten sollten. Aber eben nicht im traditionellen deskriptiv-normativen Sinne – sondern syntaktisch-kurativ.

Wir würden uns freuen, wenn möglichst viele Leserinnen und Leser unseres Blogs Vorschläge für geeignete, Transformation unterstützende und Orientierung bietende Modelle oder Schemata in Kommentaren machen würden!

P. S.: Auf dem Symposion «Syntaktischer beraten und führen. Der Zauber inhaltsvoller Lösungen durch inhaltsfreies Arbeiten» gehen wir am 03. bis 04. März 2020 zusammen mit der Philosophin Natalie Knapp und weiteren Gästen dem Wesen des Syntaktischen auf lustvolle Weise nach!

P.P.S.: Unter «Know how to go - Audiodateien» finden Sie einen längeren Vortrag über «syntaktisches Arbeiten», der das Thema noch ausführlicher bespricht.