Es sind die Wechselwirkungen, auf die es ankommt!
/„Systemisch ist in!“ – und das ist gut so. Aber wird in der Unternehmensrealität tatsächlich systemisch gedacht und gehandelt? Was heißt überhaupt „systemisch“?
Grundprinzipien von systemisch
An den Anfang meines Beitrages möchte ich die Gemeinsamkeiten über die diversen Systemischen Schulen stellen. Folgende Grundprinzipien gelten über verschiedene Schulen hinweg als systemisch:
Menschliche Erlebnis- und Verhaltensweisen erfolgen in Zusammenhang mit und in Bezug auf andere Menschen und Umfeldkräfte.
Die zu betrachtende Grundeinheit ist das über das Individuum hinausgehende System (persönliche Beziehungen, Organisationen, Gesellschaft, Umwelt…).
Somit geht es um Wechselwirkungen und nicht nur um die Elemente eines Systems.
Lebende Systeme sind autonom.
Systeme erschaffen sich selbstorganisierend (Autopoiese).
Für systemisches Arbeiten gilt das Prinzip der Zirkularität. Linear-kausales Denken (Ursache – Wirkung) wird durch zirkuläres, vernetztes Denken ersetzt.
Alles gewinnt seinen Sinn, seine Bedeutung und seine Wirkung erst im jeweiligen Situationszusammenhang (Kontextualität).
Soziale Wirklichkeit wird konstruiert, Bedeutung wird gegeben (Wahr-Gebung).
Die Gestaltung von sozialen Wirklichkeitskonstruktionen in einem System durch miteinander verkoppelte, sich regelhaft wiederholende Beiträge in Wechselwirkung werden Muster genannt.
Systemische Betrachtungsweisen vermeiden die Zuschreibung von Eigenschaften zu Systemen, Systemteilen, Personen zugunsten von Aufmerksamkeit auf Beziehungen, Strukturen, Kontexte, Dynamiken und Muster.
(frei zitiert nach G. Schmidt, Liebesaffären zwischen Problem und Lösung, 2010, und M. Varga von Kibéd, mündliche Erläuterungen)
Drei Beispiele aus der Beratungspraxis
Beispiel 1: Eine Abteilungsleiterin ist unzufrieden mit einem ihrer Teamleiter. Dessen Team erreicht die Ziele nicht, hat öfters mühsame Konflikte und auch eine höhere Fluktuation als der Durchschnitt. Aus ihrer Sicht ist der Teamleiter überfordert, hat das Team nicht im Griff und kommuniziert ungenügend. Sie spielt mit dem Gedanken, den Teamleiter zu entlassen und an seiner Stelle einen fähigeren einzustellen.
Beispiel 2: Der neue Geschäftsführer eines größeren Unternehmens ist äußerst unzufrieden mit der Performance, Fluktuation und Stimmung in einer Abteilung. Er hat schon öfters der Abteilungsleitung mitgeteilt, dass er von ihr verlangt, endlich diese Situation zu verbessern, was dieser aber nicht zu gelingen scheint. Der Geschäftsführer zweifelt an den Fähigkeiten der Abteilungsleitung, stellt diese massiv in Frage, wundert sich aber gleichzeitig darüber, dass dieselbe Abteilungsleitung offensichtlich früher diese Probleme nicht hatte und sehr erfolgreich war.
Beispiel 3: Zwei Abteilungen sind im Konflikt miteinander. Sie schreiben sich gegenseitig negative Eigenschaften und Absichten zu, zweifeln an der Integrität der anderen und sind überzeugt, dass der Konflikt nicht bestünde, wenn fähigere Leute eingestellt werden würden. Den Konflikt gab es früher nicht. Seit das Unternehmen stark gewachsen ist, hat er sich zunächst unbemerkt entwickelt und eskaliert zunehmend.
Wechselwirkungen statt lineare Kausalität
Alle drei Beispiele stammen aus meiner Beratungspraxis und haben eines gemeinsam: Das Individuum bzw. die Individuen werden als Ursache für die Probleme gesehen. Dieses Denken aber ist nicht Teil der Lösung solcher Probleme, vielmehr bewirkt es in der Regel eine Verstärkung derselben. Denn kausales Ursache-Wirkung-Denken hat seinen Sinn in mechanischen, toten Zusammenhängen. So macht es Sinn, die kaputte Zündkerze als Ursache für das Nicht-Anspringen des Autos zu sehen. In lebenden Systemen aber gibt es keine lineare Kausalität. Hier sollten wir vielmehr von Wechselwirkungen sprechen und dabei ist es hilfreich, den Kontext immer mit einzubeziehen und zu berücksichtigen.
Wenn wir also Probleme definieren und ein Individuum als Ursache betrachten, ist dies aus der Tradition des linear-kausalen Denkens und dem in der westlichen Welt stark vertretenen Individualismus heraus zwar verständlich, aber es ist zu kurz gegriffen und definitiv nicht systemisch.
Dies bedeutet für die drei obigen Beispiele, dass Führung und Beratung nicht ausschließlich bei den Individuen anzusetzen haben, sondern dass es lohnend erscheint, die verschiedenen Wirkkräfte und Wechselwirkungen auf bzw. innerhalb eines Systems zu untersuchen. Selbstverständlich ist dabei das Individuum als interagierendes Systemelement zu berücksichtigen, aber wesentlich aufschlussreicher ist die Betrachtung der Beziehungsgestaltung zwischen den Individuen und den übrigen Systemelementen.
Modelle als hilfreiche Landkarten
Um dies möglichst ganzheitlich zu tun und um Orientierung für Vorgehensweisen und Entwicklungen zu bekommen, sind Modelle sehr hilfreich. Sie helfen die Komplexität zu reduzieren und Phänomene verständlicher zu machen. Jedoch – ganz im Sinne der obigen Prinzipien – ist immer zu bedenken, dass Modelle nur Annäherungen an soziale Wirklichkeiten sind und nicht mit diesen verwechselt werden dürfen (die Landkarte ist nicht die Landschaft). Modelle können dann als systemisch betrachtet werden, wenn sie verschiedenste relevante Kontexte mit einbeziehen, die Wechselwirkungen und Wirkkräfte innerhalb des betrachteten Systems deutlich sichtbar machen.
Systemisch-Evolutionäre Trigon-Modelle
Die von Trigon verwendeten Konzepte Ganzheitliches Systemkonzept und Entwicklungsphasen von Organisationen helfen dabei, einen systemischen Blick auf Organisationen zu bekommen. So wird einerseits die Dimension der Organisation mit den in Wechselwirkung stehenden und verbundenen 7 Wesenselementen (Grafik 1) genau betrachtet. Andererseits wird die Entwicklungs-Dimension einer Organisation, ihre Veränderung in der Zeit und die damit typischerweise verbundenen Herausforderungen (Grafik 2) beleuchtet, was nicht nur eine Kontextualisierung der Systemelemente und ihrer Beziehungen untereinander ermöglicht, sondern darüber hinaus die Wechselwirkungen mit dem Umfeld der Organisation und die Wirkkräfte ihrer Entwicklungsdynamik betont.
Intervention im systemischen Sinne heißt vor allem Bildung von Unterschieden. Dazu könnten bspw. folgende Fragen gestellt werden:
Ad Beispiel 1: Wie wirkt sich der Prozess der Zielsetzung auf die Zielerreichung des Teams aus? Welche Wirkung hat dies auf die Kommunikation im Team? Was wiederum bewirkt dies bei der Führung des Teams? Welchen Unterschied würde es machen, wenn die Abteilungsleiterin ihre Unzufriedenheit dem Teamleiter anders kommunizieren würde? Was würde dieser wiederum dadurch an seiner Kommunikation mit dem Team ändern? etc.
Ad Beispiel 2: Welche Auswirkungen hat die Strategie des neuen CEO auf die Abteilungsleitung? Wie wirkt sich dies auf die Führung der Abteilung aus? Was wiederum hat dies für Wirkungen bezüglich des Selbstverständnisses, der Identität der Abteilung? Wie wirkt sich das auf die Performance der Abteilung und die Belastung der Mitarbeitenden aus? Welche Wirkung hat das auf die Fluktuation innerhalb der Abteilung? Was bewirkt die Fluktuation bezüglich der Stimmung in der Abteilung und deren Performance? Was für einen Unterschied würde es machen, wenn sich die Abteilungsleitung bei den Strategie- und Entscheidungsprozessen anders einbringen könnte? etc.
Ad Beispiel 3: Welche Wirkung hat das Wachstum des Unternehmens auf die Prozesse und Schnittstellen der beiden Abteilungen? Wie wirken sich diese auf die Funktionen der Abteilung aus? Was bewirkt dies bei den Mitarbeitenden in diesen Funktionen? Welche Wirkung hat das wiederum auf die Befindlichkeit der Menschen und deren Kommunikation? Würde es einen Unterschied machen, wenn der Konflikt nicht vor allem den Menschen, sondern stärker dem organisationalen Kontext zugeschrieben werden würde? etc.
Systemische Führung und Beratung verlangt von uns, das immer noch vorherrschende linear-kausale Denken durch ein vernetztes, Wechselwirkungen einbeziehendes Denken zu erweitern. Dadurch werden wir der Komplexität von Systemen und ihren Elementen wesentlich besser gerecht. So wird ein einseitiger Individualismus, wie wir ihm heute mehr und mehr huldigen, relativiert und der Blick eher auf die Zusammenhänge und die Kontexte gelenkt, in welchen sich Individuen befinden.
Literatur zur Vertiefung
Glasl, F./T. Kalcher/H. Piber (2008): Professionelle Prozessberatung, Haupt, Bern
Glasl, F./B. Lievegood (2011): Dynamische Unternehmensentwicklung, Haupt, Bern
Schmidt, G. (2010): Liebesaffären zwischen Problem und Lösung, Carl Auer, Heidelberg
Sparrer, I./M. Varga von Kibéd (2011): Ganz im Gegenteil, Carl Auer, Heidelberg
Sparrer, I. (2009): Wunder, Lösung und System, Carl Auer, Heidelberg